Umkehr der Beweislast auch bei noch unbekannten Gefahren eines Behandlungsfehlers

Verstößt ein Arzt gegen grundlegende ärztliche Standarts und begeht somit einen groben Behandlungsfehler, der geeignet ist, mehrere Gesundheitsschäden bekannter oder noch unbekannter Art zu verursachen, so wird dennoch eine Umkehr der Beweislast vorgenommen.

Eine Ausnahme von dem Grundsatz der Umkehr der Beweislast kommt nicht mit der Begründung in Frage, dass zum Zeitpunkt der Vornahme des groben Behandlungsfehlers noch nicht bekannt war, dass daraus der eingetretene Gesundheitsschaden resultieren kann.

In dem entschiedenen Fall kam es bei dem Kläger drei Tage nach der Geburt infolge einer falschen Beatmung zu schweren Hirnschäden, infolge dessen der Kläger dauerhaft pflegebedürftig ist. Dabei registrierten die Ärzte zwar, dass die Blutgaswerte des Klägers infolge einer zu hohen Sauestoffkonzentration pathologische Maße annahmen, unternahmen jedoch über mehrere Tage lang nichts. Zur damaligen Zeit gehörte es nicht zum Standardwissen, dass eine falsche Sauerstoffkonzentration bei der Beatmung von Frühgeburten zu Augenschäden und Druckschäden an der Lunge führen kann.

Der BGH entschied, dass ein Verstoß der Ärzte gegen eine standardgemäße Behandlung vorlag. Dabei war unerheblich, dass die eingetretenen Schäden nicht zum damaligen Standardwissen der Ärzte gehörten, denn bei dem Geschädigten wurde keine auf Normwerte ausgerichtete Behandlung durchgeführt, vielmehr wurde über mehrere Tage eine falsch dosierte Überbeatmung durchgeführt.
Eine Umkehr der Beweislast kam dabei deshalb nicht in Betracht, weil das Spektrum der möglichen Schadensursachen aus der über mehrere Tage durchgeführten Falschbeatmung herrührte. Die elementare Bedeutung dieses Behandlungsfehlers verschob das Spektrum der möglichen Schadensursachen derart, dass eine Beweisführung dem Beklagten unzumutbar war, auch wenn die Gefahren einer Überbeatmung zum damaligen Zeitpunkt noch nicht gänzlich bekannt waren.
 
Bundesgerichtshof, Urteil BGH VI ZR 77 11 vom 19.06.2012
Normen: BGB § 823
[bns]